The best is the enemy of the good: muss ein Arzt, der eine medizinische Standardtherapie anwendet, dem Patienten ungefragt erläutern, welche alternativen fortgeschrittenen Operationstechniken anderweitig möglich wären?
Das OLG München urteilt: nein, Urteil vom 10. November 2011 · Az. 1 U 306/11
Der Fall:
Die Klägerin stürzte und zog sie sich einen offenen Mittelfingerbruch an der rechten Hand zu. Nach der Erstversorgung wurde die Klägerin zur Weiterbehandlung an die Klinik der Beklagten überwiesen. Dort wurde sie noch am selben Tag operiert. Es wurden zwei Knochenfragmente entfernt und das mittlere Fingergelenk des rechten Mittelfingers mit zwei kreuzweise eingebrachten Kirschnerdrähten versehen. Anschließend wurde der Finger mit einer Aluschiene ruhig gestellt. Später wurden weitere Operationen in der orthopädischen Klinik durchgeführt. Die Klägerin kann nach wie vor den Mittelfinger nicht ordnungsgemäß beugen. Dieser ist im verletzten Gelenk immer noch angeschwollen.
Die Klägerin ist u. a. der Auffassung, dass die stattgehabte Versorgung mit Kirschnerdrähten kein Standardverfahren gewesen sei. Außerdem seien zu dicke Drähte benutzt worden. Eine Aufklärung über alternative Behandlungsmethoden sei unterblieben. Sie verlangt ein Schmerzensgeld von € 25.000 und die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin weitere künftige materielle und immaterielle Schäden, insbesondere Haushaltsführungsschäden, zu ersetzen.
Das Landgericht hat ein handchirurgisches Gutachtens eingeholt und die Klage abgewiesen.
Der Sachverständige stellte fest, dass die stattgehabte Versorgung des Bruches mit Kirschnerdrähten lege artis und entsprechend einer zulässigen Standardmethodik durchgeführt wurde. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang zunächst klargestellt, dass der Bruch, den die Klägerin erlitten hatte, operationspflichtig war und mithin eine konservative Behandlung nicht in Betracht kam. Er hat dargelegt, dass eine offene Gelenksluxation vorlag. Dieser instabile Befund ist in erster Linie auf die Verletzung des Kapselbandapparates zurückzuführen. Die gerissenen Bänder können nicht unmittelbar genäht werden. Die von der Beklagten eingebrachten Kirschnerdrähte fixieren kreuzweise das Gelenk. Sie ersetzen damit den zerstörten Bandapparat als eine Art innere Schienung.
Der Sachverständige hat auch ausgeführt, dass in der spezialisierten Klinik, in der er tätig ist, bei Frakturen, wie sie die Klägerin erlitten hat, eine gelenkdynamische operative Versorgung (Schenk’sche Distraktion) bevorzugt wird. Diese Verfahren bringen das verletzte Gelenk ebenfalls in eine anatomische Position, ermöglichen aber auch eine gewisse Beweglichkeit des verletzten Gelenkes. Letzteres hat gegenüber der Behandlung mit Kirschnerdrähten den Vorteil, dass die verbleibende Restbeweglichkeit des Gelenks die Remodellierung der Gelenkfläche im Regelfall günstig beeinflusst. Es handelt sich dabei allerdings um eine hochkomplexe Behandlungsstrategie. Es ist eine Schienenherstellung erforderlich, die nur wenige Ergotherapeuten beherrschen sowie kontrollieren und stetig nachjustieren können. Nicht ganz so kompliziert wie die in der Klinik, in der der Sachverständige tätig ist, angewandte Schenk’sche Distraktion, aber in eine ähnliche Richtung geht der Suzuki Fixateur. Allerdings sind diese Methoden gegenüber der Versorgung mit Kirschnerdrähten mit einer höheren Infektionsgefahr verbunden. Außerdem besteht auch ein erhöhtes Risiko einer Fehlstellung, was eine wöchentliche Röntgenkontrolle erfordert.
Die stattgehabte Behandlung mit Kirschnerdrähten ist die einfachere Behandlung, die den Vorteil der niedrigeren Infektionsgefahr für sich hat. Auch die Gefahr einer Fehlstellung ist geringer. Allerdings heilt, wie erwähnt, gegebenenfalls der Knorpel funktional nicht so gut aus.
Der Sachverständige hat daran festgehalten, dass die in der Klinik der Beklagten angewandte Operationsmethode die tägliche Praxis bei vergleichbaren Verletzungen in ganz Deutschland ist, es sich mithin eine Standardmethode handelt, die auch kunstgerecht umgesetzt wurde. Dagegen ist das vom Sachverständigen bevorzugte früh mobilisierende Verfahren nach Angaben des Sachverständigen in Europa erstaunlich unüblich geblieben, wobei diese Feststellung des Sachverständigen auch für handchirurgische Zentren gilt.
Die Schlussfolgerung des Gerichts:
Die beiden Operationsmethoden bieten sowohl Vor- wie auch Nachteile. Da die Beklagte ein in Deutschland übliches Standardoperationsverfahren angewendet hat, musste sie die Klägerin nicht an eine andere Klinik verweisen. Die Behauptung der Klägerin, der Beklagten fiele ein Übernahmeverschulden zur Last, liefe praktisch darauf hinaus, dass die Beklagte ein Standardverfahren nicht anwenden durfte. Die Beklagte musste entgegen der Einschätzung der Klägerin auch nicht Gerätschaften für eine Behandlungsmethode vorhalten, die der Sachverständige als in Europa eher unüblich eingeschätzt hat.
Auswirkungen für die Praxis:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (NJW 2005, 1718; NJW-RR 2011, 1173) ist die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes. Gibt es indessen mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden, die wesentlich unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen aufweisen, besteht eine echte Wahlmöglichkeit für den Patienten. Dann muss diesem nach entsprechend vollständiger ärztlicher Aufklärung die Entscheidung überlassen bleiben, auf welchem Wege die Behandlung erfolgen soll und auf welches Risiko er sich einlassen will. Es handelt sich dabei um so genannte Selbstbestimmungsaufklärung/ Risikoaufklärung und nicht um therapeutische Aufklärung/Sicherungsaufklärung. Sie kann aber nur da verlangt werden, wo der Patient eine echte Wahlmöglichkeit hat. Das ist etwa dann nicht der Fall, wenn diese anderen, theoretisch in Betracht kommenden ärztlichen Maßnahmen keine besonders ins Gewicht fallenden Vorteile hinsichtlich der Heilungschancen und möglicher Komplikationen derselben Risikogruppe haben und nach medizinischer Erfahrung jedenfalls nicht besser indiziert sind (BGH, NJW 1988, 763, 764). In diese Richtung geht die Begründung des OLG München. Das OLG übersieht dabei, dass die Voraussetzungen für eine Beteiligung der Patientin an der Therapiewahl gar nicht vorlagen, weil es sich bei den durch den Sachverständigen erwähnten Alternativmethoden nicht um übliche Methoden ging. Über solche braucht der Arzt seinen Patienten nicht aufzuklären, weil sie keine "echten Alternativbehandlungen" darstellen. Bereits das OLG Hamm (Urteil vom 25.10.2005, AZ.: 3 U 46/05: Hallux-Valgus-OP nach Stoffella, Brandes, Hueter-Majo oder nach Homann) entschied, dass bei den unüblichen Methoden nicht um aufklärungspflichtige Alternativen handelt. Denn es sowohl den Arzt als auch den Patienten auch regelmäßig überfordert würde, wenn ihm die einzelnen Vor- und Nachteile von verschiedenen unüblichen Techniken dargestellt würden, was mit vertretbarem Aufwand auch schon kaum möglich erscheint. Das OLG hätte daher die Aufklärungspflicht bereits mit diesem Argument verneinen können.
Obgleich sich die Rechtsprechung zum Thema gefestigt hat, besteht für den Arzt doch ein Restrisiko, insbesondere im Hinblick darauf, dass er nicht immer beurteilen kann, ob es sich um eine übliche Alternativmethode handelt oder nicht. Ärzten kann nur empfohlen werden, die geschuldete Aufklärung auch bezüglich Alternativen sorgfältig zu dokumentieren, um im Streitfalle entsprechende Beweise/Indizien zur Verfügung zu haben.
Zu unterscheiden wäre der umgekehrte Fall der notwendigen Aufklärung bei Anwendung unüblicher Operationsmethoden. Eine Leitentscheidung dazu traf der BGH bereits im Jahr 2005 im Fall des damals unüblichen computerunterstützten Fräsverfahrens (Robodoc), VI ZR 323/04 – Urteil vom 13.6.2006: Will der Arzt keine allseits anerkannte Standardmethode, sondern eine relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden, so hat er den Patienten auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind.