Gilt § 839 a BGB auch für die in einem Ermittlungsverfahren erstatteten medizinischen Gutachten, BGH, Urteil vom 06.03.2014, AZ.:III ZR 320/12?
Das Problem:
In einem Ermittlungsverfahren wird ein medizinisches Sachverständigengutachten zur Todesursache erstattet, das Grundlage für Ermittlungen gegen einen Beschuldigten wird, gegen den dann auch Zwangsmaßnahmen angeordnet werden. Später wird das Verfahren eingestellt. Der Sachverständige ist Beamte bei einer Hochschule. Es stellt sich dann die Frage, ob der der Sachverständige persönlich nach §839a BGB haftet, wenn sein Gutachten „falsch” war.
Der Fall:
Der Kläger nimmt den Beklagten zivilrechtlich unter dem Vorwurf der Erstellung eines fehlerhaften Gutachtens auf Schadensersatz und Geldentschädigung wegen der Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Anspruch. Der Kläger ist Chefarzt für Innere Medizin am S. -Hospital in W. und dessen stellvertretender ärztlicher Direktor. Der Beklagte ist beamteter Professor für Rechtsmedizin und war zum damaligen Zeitpunkt Leiter des Instituts für Forensische Toxikologie am Zentrum der Rechtsmedizin des Klinikums der J. -Universität in F.
Im Zeitraum vom 2007 bis 2009 lief gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren, dem folgender Sachverhalt zu Grunde lag:
Im September 2007 wurde die damals 91 Jahre alte Patientin G., die mit dem Kläger und seiner Ehefrau befreundet war und beide Eheleute testamentarisch zu ihren Erben eingesetzt hatte, wegen starker Luftnot und Übelkeit in das S. -Hospital W. gebracht und dort unter anderem auch vom Kläger untersucht und behandelt. Wenige Minuten vor Eintritt des Todes der Patientin veranlasste der Kläger unter anderem die Gabe von Morphin. In dem Leichenschauschein wurde als Todesursache akutes Herz-Kreislauf-Versagen angegeben. Nachdem eine Nichte der Verstorbenen gegenüber der Staatsanwaltschaft W. den Verdacht eines nicht natürlichen Todes ihrer Tante geäußert hatte, ordnete die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme der Leiche und deren Obduktion durch das Zentrum der Rechtsmedizin der J. -Universität in F. an.
Im Mai 2008 erstattete der Beklagte gemeinsam mit zwei Kollegen ein Gutachten über die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung der asservierten Körperflüssigkeiten und -gewebe. Hiernach fanden sich bei der Untersuchung des Herzbluts unter anderem 0,471 mg/l Morphin und ein "Hinweis auf 6-Monoacetylmorphin" (im Folgenden: 6-MAM).
In einem Gespräch mit Beamten der Kriminalpolizei erklärte der Beklagte, dass es sich bei dem im Herzblut gefundenen 6-MAM um ein kurzlebiges Abbauprodukt von Heroin handele, welches sich danach zu Morphin zersetze und eine Heroinaufnahme beweist.
Eine weitere Hirngewebeuntersuchung wurde durch den Beklagten August 2008 durchgeführt, wobei der Nachweis von 6-MAM dabei nicht erbracht wurde. Über das Ergebnis berichtete der Beklagte der Staatsanwaltschaft zunächst nicht.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht W. im November 2008 wegen des Verdachts des Mordes einen Haftbefehl gegen den Kläger und einen Durchsuchungsbeschluss. Der Kläger wurde anschließend verhaftet, seine Dienst- und Büroräume wurden durchsucht und der Geschäftsführer sowie die Mitarbeiter des S. -Hospitals über den Tatverdacht informiert. Bei der Vernehmung durch den Ermittlungsrichter konnte der Kläger die gegen ihn erhobenen Vorwürfe entkräften, so dass der Haftbefehl aufgehoben wurde. Einige Tage danach wurde über die Verhaftung des Klägers in Zeitungsartikeln berichtet.
Im Juli 2009 – nachdem der Beklagte der Staatsanwaltschaft nunmehr die Ergebnisse der Hirngewebeuntersuchung (die ihm bereits im Augusts 2008 bekannt wurden) vorgelegt hatte - wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger durch Verfügung der Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Der Kläger begehrt beim LG Frankfurt eine angemessene Geldentschädigung von mindestens 150.000 € und macht geltend, der Beklagte habe grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstellt, indem er die Vergabe von Heroin festgestellt habe. Darüber hinaus habe der Beklagte die Ermittlungsbehörden von dem Ergebnis der Hirngewebeuntersuchung nicht (zeitnah) in Kenntnis gesetzt. Dieses Fehlverhalten sei ursächlich für die Verhaftung des Klägers sowie die Durchsuchung seiner Büroräume gewesen. Durch diese Zwangsmaßnahmen sowie die anschließende Presseberichterstattung sei der Ruf des Klägers dauerhaft und irreparabel geschädigt worden. Der Kläger hat eine angemessene Geldentschädigung von mindestens 150.000 € begehrt.
Entscheidung der Vorinstanzen:
Sowohl das LG Frankfurt als auch das OLG Frankfurt hatten der Klage aus § 839 a BGB stattgegeben.
Das Berufungsgericht hat eine Haftung des Beklagten gemäß § 839a BGB bejaht und hierzu im Wesentlichen ausgeführt:
„Die Haftung des Beklagten beurteile sich nicht nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, weil der Beklagte nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt habe. Seine gutachterlichen Stellungnahmen stellten keine Behördengutachten dar. Einer solchen Einordnung stehe bereits entgegen, dass der Beklagte seine Tätigkeit selbst nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz liquidiert habe. Für eine dienstliche Gutachtertätigkeit hätte dem Beklagten kein eigener Entschädigungsanspruch zugestanden, sondern der Behörde, für die er tätig geworden sei. Zudem habe der Beklagte das Gutachten im eigenen Namen abgegeben.
Die Tätigkeit des Beklagten sei auch nicht deshalb als hoheitlich einzustufen, weil sie mit der Verwaltungstätigkeit der beauftragenden Behörde aufs engste zusammengehangen habe und er in diese so maßgeblich eingeschaltet gewesen sei, dass die Prüfung geradezu einen Bestandteil der von der Behörde ausgeübten und sich in ihrem Verwaltungsakt niederschlagenden hoheitlichen Tätigkeit gebildet habe. Die Gutachten des Beklagten seien nicht Bestandteil einer von der Staatsanwaltschaft zu treffenden Entscheidung gewesen. Der Beklagte habe lediglich - wie im Falle der Beauftragung durch ein Gericht - seine besondere Sachkunde der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt. Ob die vorgängige Obduktion als hoheitlich einzuordnen sei, sei unerheblich, denn die toxikologischen Untersuchungen des Beklagten seien erst im Anschluss hieran erfolgt“.
Mit seiner Revision verfolgte der Beklagte sein Klageabweisungsbegehren weiter. Die Revision hatte Erfolg und führte zur vollständigen Abweisung der Klage. Nach Auffassung des BGH handelte der Beklagte in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes und haftete deshalb gegenüber dem Kläger nicht persönlich. Die richtige Beklagte wäre die Anstellungskörperschaft § 839 a BGB.
Entscheidung des BGH:
Der BGH entwickelt seine Rechtsprechung zur Haftung eines gerichtlichen Sachverständigen weiter und wendet § 839a BGB über seinen Wortlaut hinaus (analog) auch für medizinische Gutachten, die in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft erstattet werden, an. Diese Gleichbehandlung rechtfertige sich aus der organisatorischen und institutionellen Nähe der Staatsanwaltschaft zum Gericht. Letztlich würde es sachlich nicht überzeugen, wenn der Haftungsmaßstab davon abhinge, ob der Sachverständige nur im Ermittlungsverfahren (im Auftrage der Staatsanwaltschaft) tätig geworden sei (dann: kein "gerichtlicher" Sachverständiger) oder auch (im Auftrage des Gerichts) in einem anschließenden Hauptverfahren (dann: "gerichtlicher" Sachverständiger)“.
Der Anspruch aus § 839a BGB analog bestehe dennoch nicht. Denn § 839 BGB verdrängt (nach ständiger Rechtsprechung ) in seinem Anwendungsbereich als vorrangige Spezialregelung konkurrierende Ansprüche aus §§ 823 ff BGB und damit aus §839 a.
Der Beklagte hat im vorliegenden Fall in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt.
Der BGH wiederholt die Abgrenzungskriterien seiner ständigen Rechtsprechung zur Frage, ob sich das Handeln einer Person als Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes darstellt.
Danach ist maßgebend, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wird, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen.
Vorliegend bejaht der BGH das Handeln einer Person als Ausübung eines ihr anvertrauten öffentlichen Amtes. Denn die - auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgen - Leichenöffnung sowie die nachfolgenden Untersuchungen durch den Leiter eines rechtsmedizinischen Instituts stellten sich als Wahrnehmung einer hoheitlichen Aufgabe dar.
Auswirkungen für die Praxis:
Für die Haftung eines medizinischen Sachverständigen ist die Anspruchsgrundlage aus § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 Satz 1 GG gegenüber der aus mit der § 839 a BGB vorrangig zu prüfen. Wird nach o. g. Kriterien die Frage, ob der Sachverständiger in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat, bejaht, ist eine persönliche Inanspruchnahme des Sachverständigen durch den Geschädigten ist nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 Satz 1 GG insoweit ausgeschlossen. Die richtige Beklagte ist dann die Anstellungskörperschaft. Anderenfalls ist die Anspruchsgrundlage § 839 a BGB, die jetzt nunmehr auch für medizinische Gutachten, die in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft erstattet werden, gilt.